zeichnen und biographie

Bio_graphics ist ein autobiografisches Zeichen- und Schreibprojekt, dass ich 2019 über einen Zeitraum von zwei Monaten verfolgte. Zum Zeitpunkt meines biografischen Experiments machte ich eine Fortbildung zu Diskriminierungskritik an der Schnittstelle zwischen Kunst und Bildung an der KontextSchule, eine Weiterbildung, die sich aus dem Masterstudiengang „Kunst im Kontext“ der UdK Berlin entwickelt hat. Die Inhalte dieser Fortbildung stellten an einigen Stellen mein Selbstverständnis in Frage und ich wollte versuchen, zeichnend und schreibend etwas über den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Prägung und meiner spezifischen Biografie herauszufinden.

der Versuchsaufbau

Dazu erarbeitete ich eine „Versuchsanordnung“, bei der sich Zeichnen, Denken und Schreiben in unterschiedlicher Form abwechseln und gegenseitig durchdringen. Um der ständig wirksamen Selbstzensur zu entkommen, griff ich Elemente des automatischen Schreibens und kontemplativen Zeichnens auf und folgte Impulsen, die sich in einem von mir selbst gesetzten Zeitrahmen in den Vordergrund schoben oder besonderes emotionales Gewicht hatten. Von dort aus fragte ich weiter, assoziierte, fand und erfand Bilder, Symbole und Metaphern. Eher als darum, eine spezifische Fragestellung stringent zu verfolgen, ging es um den Prozess, einen Gedanken- oder Erinnerungsinhalt visuell zu konkretisieren, um dann zu schauen, ob und wie das gezeichnete Bild auf die Gedanken zurückwirkt.

Versuchsanordnung:
1.
Ich wählte ein Motiv, das symbolisch zum biographischen Zeitraum passte, über den ich reflektieren wollte. Da ich zu diesem Zeitpunkt im Schwarzwald gelebt hatte, war das Motiv die vereinfachte Form einer Tanne, wie sie zum Beispiel als graphisches Symbol für Kartierungen verwendet wird. Ich begann, täglich eine halbe Stunde, ein repetitives Muster dieses Tannenmotivs mit Aquarellfarbe auf ein A3 Blatt zu zeichnen. Ab und zu unterbrach ich, und schrieb Gedanken und Erinnerungen, die sich einstellten, stichpunktartig auf ein extra Blatt. Ich zeichnete und machte mir Notizen, bis das A3 Papier bedeckt war. Das dauerte 29 Tage.

2.
Als zweiten Schritt las ich mir die Notizen, die eine Mischung aus Erinnerungen an den gewählten biographischen Zeitraum und Reflexionen zu tagesaktuellen Erlebnissen enthielten, zweimal durch. Beim ersten Mal unterstrich ich Passagen, die mir wichtig erschienen, beim zweiten Mal fasste ich die Aufzeichnungen jeweils eines Tages, dann möglichst rasch und spontan in einer Art Überschrift zusammen.

3.
Der dritte Schritt bestand darin, zu den Überschriften jeweils eine Stunde täglich zu zeichnen.

auswertung

In dem Versuchsaufbau mischen sich „strenge“ und „lose“ Elemente. In Schritt Eins ist das Zeichnen in erster Linie eine Tätigkeit, die sowohl Konzentration als auch Entspannung bedeutet. Konzentration, indem die Aufmerksamkeit gleichmäßig fokussiert wird, Entspannung indem nicht über neue Inhalte in Bezug auf das Zeichnen nachgedacht werden muss. Das Gestaltungsprinzip war, einmal gesetzt, einfach zu verfolgen. In diesem Modus spielte sich das Denken und Erinnern manchmal ruhig, manchmal aufgewühlt, manchmal faktisch, manchmal analytisch ab.
In Schritt zwei gilt es, durch die Überschrift eine Essenz aus den Notizen zu destillieren.
Im letzten Schritt wird die Überschrift visuell erneut aufgeblättert. Dabei können sich die Zeichnung auf ein konkretes biographisches Ereignis beziehen (1), eine Assoziation zu einem formalen Element des Zeichnens aufgreifen (2), oder die visuelle Übersetzung eines Sprachbildes sein (3). Das Gezeichnete konnte die Form eines Symbols annehmen, eine Begebenheit als Comic erzählen, einen Ort als Grundriss oder Aufriss rekonstruieren, eine eigenen Bildmetapher zu einer Erinnerung erfinden, etc..
Für mich gleichen diese Zeichnungen unabgeschlossenen und bildhaften Überlegungen. Vielleicht sind sie nur für einen Moment gültig, in ihren Bezügen nur für mich lesbar; vielleicht greife ich sie zu einem späteren Zeitpunkt auf, um sie zu verändern; vielleicht führe ich sie mir in bestimmten Momenten vor Augen, meditiere mit ihnen, streiche sie durch, übermale sie…
Entstanden sind persönliche Bilder, Geschichten, Symbole und Metaphern ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit.